Was ist Bindungstraumatisierung?
Das, was ich im Folgenden schreibe, ist kein wissenschaftlicher Fachbericht, sondern meine persönliche Sichtweise als Mensch, der Bindungstraumatisierung erlebt hat und viel später im Erwachsenen-Leben dann eine Ausbildung zum traumasensiblen Coach gemacht hat, in der er viel Wissenschaftliches und Medizinisches über Bindungstraumatisierung gelernt hat. Ich schreibe hier also jetzt nicht als Fachperson, sondern als Betroffene (mit Ausbildung).
Definition des Begriffs
Der Begriff "Bindungstraumatisierung" beschreibt eine Form der Traumatisierung, die in früher Kindheit zwischen den Bindungspersonen und der betreffenden Person stattgefunden hat und die sich auf die Bindungsfähigkeit der betreffenden Person im späteren Leben nachhaltig auswirken.
Den Begriff "Bindungstrauma" gibt es nicht offiziell als Diagnose, er ist aber in der Fachwelt zunehmend akzeptiert. Im Diagnose-Manual ICD-11 findet man die kPTBS, also die komplexe Posttraumatische Belastungs-Störung, die man am ehesten mit der Bindungstraumatisierung in Verbindung bringen könnte.
Aber das ist mir hier nicht wichtig. Mir ist wichtig: es gibt eine Bindungstraumatisierung. Und diese kann zu komplexen Traumafolgestörungen führen. Und sie kann die Bindungsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigen.
Wie kann eine Bindungstraumatisierung stattfinden?
Es gibt verschiedenen Störungen in der Bindung und Beziehung zwischen Kind und Bindungsperson, die zu einer Bindungstraumatisierung beim Kind führen können. Setzen Sie hierbei für Mutter/Vater/Eltern auch alternativ jede andere Bindungsperson aus der frühen Kindheit ein:
- Emotionale Ablehnung oder fehlende Annahme des Kindes durch die Mutter / Bindungsperson
- bedrohliche Ereignisse für die Mutter während der Schwangerschaft
- Komplikationen rund um die Geburt und im Trennung im Krankenhaus
- Krankheit/Abwesenheit eines Elternteils
- früher, plötzlicher Tod eines Elternteils
- frühe Trennung der Eltern
- Verluste von wichtigen Personen, Haustieren oder Kuscheltieren
- Körperliche oder emotionale Gewalt durch die Eltern
- Körperliche oder emotionales Gewalt durch andere Personen und fehlender Schutz durch die Eltern
- Emotionale Vernachlässigung (also die Abwesenheit von Wärme, liebevoller Zuwendung, Schutz, Ermutigung, etc. und die Anwesenheit von Beschämung, Abwertung, Ausgrenzung, Ignoranz, Liebesentzug, etc.)
- und es gibt bestimmt auch noch mehr
Zu einer Bindungstraumatisierung kommt es in solchen Fällen dann, wenn diese Erlebnisse die Verarbeitungsmöglichkeiten des Kindes übersteigen, das Kind emotional im Dauerstress ist, sich hilflos und ohnmächtig fühlt und keine andere sichere Bindungsperson da ist.
Wenn es eine andere sichere Person gibt im Leben des Kindes, dann kann es sein, dass diese ausreicht, eine Traumatisierung zu verhindern.
Wie wirkt sich eine Bindungstraumatisierung im späteren Leben aus
Oh, das ist ein weites Feld, wie sich eine frühe Bindungstraumatisierung später im Leben auswirken kann.
Ich will hier einige Gedanken zusammenschreiben ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Diese Dinge habe ich selbst erlebt:
- Unfähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen, dass sie mich mögen
- Unfähigkeit, mich anderen Menschen wirklich ehrlich zu öffnen und "zuzumuten"
- Verstecken meines wahren Ichs und Anpassen bis zur Erschöpfung
- Neigung, in toxische Beziehungen zu geraten, mich schlecht behandeln und ausnutzen zu lassen
- kein Gespür für meine eigenen Bedürfnisse
- kein Gespür für meine eigenen Grenzen
- keine Ahnung, wer ich eigentlich überhaupt bin, wenn ich nicht die bin, die die anderen in mir sehen und haben wollen
- Probleme, Nähe zuzulassen
- ständiges Misstrauen und auf der Hut sein, ob ich wieder abgelehnt oder abgewiesen werde
- keine gesunde Interdependenz, nur ein Hin- und Herpendeln zwischen emotionaler Abhängigkeit und emotionaler Distanz
- die Unfähigkeit, mich in Gegenwart jedweder anderer Menschen sicher zu fühlen und zu entspannen (selbst bei meinen zwei besten Freundinnen brauchte das 20 Jahre :-/ )
- kein Gefühl für meinen eigenen Wert
- ein ständiges Gefühl von massiver innerer Einsamkeit und die Sehnsucht nach Nähe, vor der ich gleichzeitig geflohen bin, wenn ich sie hätte haben können
- nicht zu wissen, wie es sich anfühlt, wirklich und echt geliebt zu werden und gewollt zu sein
- nicht zu wissen, wie es sich anfühlt, gehalten zu sein, beschützt zu sein, sich in der Nähe eines anderen Menschen fallen lassen zu können, darauf vertrauen zu können, dass Hilfe kommt
- fehlendes Urvertrauen (ein abgedroschener Begriff, aber ich finde, er beschreibt diese tiefe Form von innerem Vertrauen am besten)
- ständig auf der Suche zu sein, bei irgendwem "zuhause zu sein" und "irgendwo hinzugehören"
- und noch mehr...
Das ist wie gesagt, keine wissenschaftlich korrekte Liste, das sind meine persönlichen Erfahrungen und Beschreibungen. Einzelne dieser Punkte können sicherlich auch noch anderen Ursachen zugeordnet werden, aber das ist mir nicht wichtig hier.
Eine Formulierung von Verena König finde ich sehr gut:
"Bindungstraumatisierung zersprengt den Kontakt zum Körper, die Verbindung zu uns selbst und zu anderen und blockiert das Gefühl von Sicherheit und Lebendigkeit."
Kann man diese Traumatisierung überwinden und heilen?
Auf jeden Fall ist eine Bindungstraumatisierung ein ganz schön schweres Paket. Aber ich habe erlebt - und bin immer noch auf dem Weg - dass man an all diesen Punkten arbeiten kann und Heilung erleben kann.
Manche Menschen denken, was so früh im Leben zerstört wurde, kann niemals wieder heilen. Das erlebe ich anders. Ich erlebe, dass der Weg SEHR lang ist und SEHR weh tun kann, aber noch bin ich an keinem Ende angekommen, ich habe bisher SEHR viele von den oben genannten Punkten wirklich geheilt und es passiert immer wieder ein Stück weitere Heilung.
Was sind Ihre Gedanken zu diesem Thema?
